Na klar! Ausgerechnet jetzt, wo mitten in dem als Drucksaal benutzen Raum des Wohnateliers ein Betonmischer über einem Loch im Boden thront, kommt die seit einer Woche verspätete Lieferung von der Spedition. Egal, Hauptsache, mein neuer Steckschriftschrank ist endlich da, die Berge wilder Steckschriftladen mit neuen Schriften nehmen überhand und wollen wegsortiert werden. Ich frage mich spontan verliebt: Wie viel Leben kann eigentlich in einem einzigen Möbel enthalten sein? Der Schriftkasten sagt: ja.
Also gut, dann tausche ich das Schleppen von Betonsäcken gegen das Wuchten von Schränken. Der neue Schriftkasten hat wie geplant in der letzten freien Ecke der Setzerei seinen Platz gefunden, direkt neben den vielen anderen Käste. Endlich kann ich jetzt die Berge an angesammelten Schriften ordentlich verstauen.
Und solche Schränke sind ja immer auch wieder kleine Zeitkapseln. Obwohl ich den Schrank eigentlich leer gekauft habe, war da eine Schublade mit einem vergessenen Satz drin. Irgendwann vor 60 oder 80 Jahren hat da ein Akzidenzsetzer ein kleines Heft oder Buch mit chemischen Formeln gesetzt. Den Sonderzeichensatz von Berthold für chemische Formeln mal “live” zu sehen hat auch so eine Chance nahe Null. Sonderzeichensätze waren das erste was eingeschmolzen wurde, als es bessere Satzmöglichkeiten gab. Schriften haben ja viele überlebt aber chemische Sonderzeichen?
Aus Jux und weil ich Lust hatte den Satz zu drucken fragte ich auf meinen beiden Social-Mediakanälen mit zusammen etwas über 26.000 Followern, ob jemand einen Abzug geschenkt haben wolle. Da die große Korrex wegen der Baustelle gerade nicht läuft, wich ich auf die kleine Korrex-Stuttgart aus, auch eine feine Presse. Pantone 2925, ein schönes Blau, fand ich ganz passend.
Am Ende wollten ganze zehn Leute einen Abzug inkl. Porto geschenkt haben. Faible für Bleihandsatz ist eben für sich schon eine absolute Nerd-Nische und Chemie offensichtlich auch–Die Schnittmenge beider ist nun quantitativ vermessen und bekannt: Sie beträgt zehn. Überschaubar 😀 Da ich keine kleinen Umschläge hatte, habe ich noch welche besorgt und dann aus purem Vergnügen mit der wilden Jaguar in 28 Punkt und einer der kleinsten meiner Schriften, der Largo in 4 Punkt die notwendigen Hinweise aufgedruckt.
P.S. dank Schwarmintelligenz weiß ich welche Formeln das sind und dass sie 1945 entdeckt wurden. Damit, mit der Technik des Bleihandsatzes und der Schriftbestimmung, es wurde die Post-Medieval von Herbert Post von 1944 verwendet, lässt sich die vergessene Setzerarbeit auf die Zeit zwischen 1945 und 1965 eingrenzen.